Die ursprüngliche Fassade von 1877
Was heute als Jugendstilfassade in Sgraffito-Putztechnik erscheint, war bis 1911 eine typische Fassade im spätklassizistischen Stil. Viele der ehemaligen Elemente sind heute verschwunden.
Das einzig bekannte Bild der ursprünglichen Fassade des Hauses stammt noch aus der Zeit vor dem Erwerb durch die Familie Stoll. Das Bild wurde von der Terrasse des Hauses der heutigen Darmstädter Straße 49 aufgenommen. Aufgrund der im Fenster zu sehenden Personen, bei denen es sich nicht um die Familie Stoll handelt, muss das Foto zwischen 1877 und 1888 aufgenommen worden sein. Die Fassade ähnelte der vieler Häuser, die in Bensheim um diese Zeit entstanden sind. Leider weist das Bild schon erhebliche Schädigungen durch unsachgemäße Lagerung auf, so daß sich Details der Fassade nur schwach erkennen lassen. So zeigt das historische Bild Faschen und Eckbänder, zudem gerade Fenstergiebel.
Die Farbgebung orientiert sich an den noch in Bensheim anzutreffenden Gebäuden, die ähnliche Fassaden haben und annähernd so alt sind. Zwar gibt es noch Bereiche, die aufgrund von Baumaßnahmen vor 1911 stattgefunden haben, allerdings sind die erhaltenen Farbreste nicht mehr eindeutig. Vermutlich hatte die gesamte Fassade - ähnlich dem heutigen Basiston - einen Ockerfarbton, der in der unten gezeigten Rekonstruktion gegen ein Weiß getauscht wurde.
Beim Ausbau der Original Haustür im Oktober 2020 wurden an den Sandsteinsockeln Farbreste freigelegt, die grau-bläulich schienen und so die Farbvariante der Rekonstruktion stützen.
Abb. 1: Einzig verfügbares Foto der ursprünglichen Fassade von 1877 |
Abb. 2: Vergleich der zwei Fassaden |
Instandsetzung 1901
Anhand einer Rechnung der Weißbinderfirma Karl Mühlum aus Bensheim aus dem Jahre 1901 lässt sich vermuten, dass nach rund 24 Jahren eine Ausbesserung bzw. Erneuerung der Fassade notwendig wurde. Das Gebäude wurde wohl teilweise eingerüstet und der alte "Lehmwurf" entfernt. Inwiefern diese dann im alten Stile ergänzt wurde, oder ob Teile "einfach glatt" gestaltet wurden und so den Übergang zur Neugestaltung im Jugendstil bildeten, ist nicht ganz klar. Teile des Gesims wurden ersetzt, der neue Lehmputz auch mit Ölfarbe gestrichen.
Im Jahre 1901 plante der Sohn des Hausbesitzers eine Umgestaltung der Fassade zu einer Jugendstilfassade, die Arbeiten von 1901 decken sich in ihrer Beschreibung aber nicht mit der späteren Jugendstilfassade. Vermutlich war diese "Neuerung" noch keine Option für den Vater. Die neue Fassade musste noch 10 Jahre als Entwurf auf die Umsetzung warten.
Die Fassade von 1911
Joseph Stoll (1879 – 1956), der Sohn des zweiten Besitzers Franz Xaver Stoll (1834 – 1902), studierte nach seinem Abitur im Jahre 1900 Architektur an der TH Darmstadt und zeitweise an der TH Karlsruhe, ergänzt um Kunstgewerbestudien in München. Sein Studium schloss er 1904 in Darmstadt mit dem Vorexamen ab. Von 1905 bis 1907 war er Assistent an der TH Darmstadt bei dem Frankfurter Bildhauer Professor Augusto Varnesi (1866–1941). In seinem kleinen Atelier im Nebenbau des Gebäudes arbeitete Joseph Stoll als Grafiker, der für die heimische und teilweise überregionale Kundschaft, Werbeprospekte, Plakate und Exlibris entwarf und auch Fassaden im Jugendstil gestaltete. Neben seinem eigenen Wohnhaus erhielten auch weitere Bensheimer Häuser bis in die 1930er Jahre Fassaden in der speziellen Sgraffito-Putztechnik, die bis heute in Bensheim erhalten sind.
Die Zeichnungen zu der Neugestaltung der Fassade seines eigenen Wohnhauses entstanden im Jahre 1901 und wurden um 1911 angebracht.
Abb. 3: Digitale Variante der Giebelseiten |
Abb. 4: Digitale Variante der Vorderseite |
Varianten und Ungenauigkeiten
Der wichtigste Unterschied zwischen der Ausgangsfassade und der heutigen Fassade ist die Entfernung der spätklassizistischen Fassade und das Anbringen der Sgraffitofassade. Die heutige Variante entspricht zwar in der Ornamentik dem Zustand von 1911, allerdings ist die Farbgestaltung der "ungeschmückten Fassade" und insbesondere des , also des Sockels, weniger farbenprächtig als heute. Zudem schienen die Sandsteinfassungen der Fenster zeitweise in einem Ockerfarbton gestrichen gewesen zu sein, wobei unklar ist, ob dies noch ein Relikt der Ursprungsfassade war oder nachträglich so angebracht wurde.
Abb. 5: Fassade um 1960 | Abb. 6: Fassade um1960 |
Restaurierung bzw. Neuanfertigung 1978
Im Jahre 1978 erfolgte eine aufwendige Neuanbringung des Putzes, wobei die Ornamentik originalgetreu aufgebracht wurde. Die Arbeiten erfolgten durch den ehemaligen Schüler Josephs Stolls, Karl Bär, der von 1934 und 1938 in der Gewerbeschule Bensheim von ihm ausgebildet wurde. Bis heute wurde die Fassade mehrfach instandgesetzt, allerdings die Ornamentik nur übermalt und nicht neu aufgebrachtAbb. 7: Zeitungsbericht aus dem Bergsträßer Anzeiger vom 29. August 1978. |
Nützliche Links
A) FASSADEN-SGRAFFITI DER 1950ER- UND 1960ER-JAHRE Gekratzte IdylleVerfügbare Dokumente
NLFXS_Haus_Bild_altes_Wohnhaus_urspruengliche_Fassade_1877.jpgNLJSB_Dias_Kasten_15_10.jpg
NLJSB_Dias_Kasten_12_33.jpg
© Frank-Egon Stoll-Berberich, 2020, Alle Rechte vorbehalten.